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Reichspogromnacht 9. November 1938 in Müllheim: Die Täter

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, brannten die Synagogen oder wurden verwüstet. Sie brannten in Baden, Württemberg und Hohenzollern genauso wie im gesamten Deutschen Reich und auch in Müllheim.

Der 9. November ist der Tag, an dem organisierte Schlägertrupps jüdische Geschäfte, Gotteshäuser und andere Einrichtungen in Brand setzten. Es ist der Tag, an dem Tausende Jüdinnen und Juden misshandelt, verhaftet oder getötet wurden. Spätestens nun konnte jeder in Deutschland sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord staatsoffiziell geworden waren. Diese Nacht war das offizielle Signal zum größten Völkermord in der Geschichte.

Am Gedenkstein für die ehemalige Synagoge in Müllheim werden am 9.11. die Namen der ermordeten jüdischen Mitbürger verlesen. Gestreifte Stoffstreifen  - die an die KZ Kleidung erinnern versehen mit dem gelben "Judenstern", auf denen die Lebensdaten der ermordeten jüdischen Mitbürger verzeichnet sind, erinnern an sie und mahnen: Nie wieder - Faschismus!

 

Wenn wir der Opfer gedenken, dürfen wir von den Tätern nicht schweigen.
Wer drang in der Nacht vom 9.auf den 10. November in die Häuser der jüdischen Mitbürger ein und verwüstete sie?

Zumindest über einige geben Akten im Staatsarchiv Freiburg darüber Auskunft:

Am 18. März 1948 erhob die Badische Staatsanwaltschaft Freiburg Anklage gegen Heinrich Hehl, Bauunternehmer aus Müllheim, Otto Karcher, Schumacher aus Eimeldingen, Friedrich Schmitt, Kraftfahrer aus Müllheim, Gustav Rheinboldt, Justizoberinspektor aus Schmieheim, Eugen Dörflinger, Schulrektor aus Bad Krozingen, Artur Sieber, kaufmännischer Angestellter aus Heidelberg, und Karl Mewes, Kaufmann aus Marzell.


Die Genannten – heute würde von Menschen aus der Mitte der Gesellschaft gesprochen – wurden folgender Straftaten beschuldigt:

„In der Nacht vom 9. /10.11.1938 erhielt Kreisleiter Hugo Grüner in Müllheim von der Gauleitung in Karlsruhe die telefonische Mitteilung, dass der Judenschutz aufgehoben sei, und die Weisung, Massnahmen gegen die im Bezirk Müllheim lebenden Juden zu unternehmen. Noch in der gleichen Nacht rief Grüner Angehörige des Kreisstabes, darunter die angeschuldigten Karcher, Sieber und Mewes auf das Büro der Kreisleitung und veranlasste sie, anschliessend einen sogenannten „Judenschreck“ zu veranstalten. Frühmorgens vor 5 Uhr zog dabei der geschlossenen Trupp unter Anführung des Kreisleiters durch die Strassen der Stadt Müllheim, lärmte, gab Schüsse  in die Luft ab und bewarf Fensterscheiben und Fensterläden der Judenwohnungen mit Steinen.
Am frühen Vormittag begann die eigentliche Aktion, wobei die führenden Parteileute von Müllheim und Umgebung, darunter die angeschuldigten Hehl, Kracher, Schmitt, Rheinboldt und Dörflinger, in mehreren Trupps durch die Strassen der Stadt zogen, in die Häuser und Wohnungen der Juden – teilweise gewaltsam – eindrangen, mit Beilen, Äxten, Stöcken und ähnlichen Werkzeugen die Fenster und das Mobiliar zerschlugen oder dieses durch die Fenster auf die Strasse warfen. Sie bedrohten und beschimpften Juden, die sich in ihren Wohnungen aufhielten oder trieben sie hinaus. Diese Zerstörungen in ungefähr 40 Wohnungen der Stadt dauerten den ganzen Tag über an. In der Synagoge in Müllheim wurden die Fenster, Bänke, Kronleuchter und die Türen des Allerheiligsten schwer beschädigt und die Gesetzestafeln auf den Boden geworfen. Der Friedhof der Juden wurde verwüstet.“

Die Staatsanwaltschaft warf den Angeschuldigten vor, als Rädelsführer an der Zusammenrottung einer Menschenmenge, die mit vereinten Kräften gegen Personen und Sachen Gewalttätigkeiten beging, teilgenommen zu haben und andere Menschen  aus politischen und rassischen Gründen verfolgt und sich dadurch eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht zu haben.

Wer waren diese Männer, die diese Straftaten begangen? In der Anklageschrift werden die persönlichen Verhältnisse der Angeklagten so geschildert:

1. Heinrich Hehl
geboren am 15.9.1899 in Ittlingen, Besuch der Volksschule. Während des Ersten Weltkrieges von 1917 an Soldat an der Ost-und Westfront, nach seiner Entlassung Bauarbeiter in Konstanz, ab 1927 selbständiger Bauunternehmer in Müllheim.
„Im März 1931 trat Hehl der Partei und im Jahre 1932 der SS bei. Zuletzt war er SS-Oberscharführer. Ratsherr der NSDAP in Müllheim

2.Otto Karcher
geboren 1906 in Eimeldingen, Besuch der Volksschule, Lehre zum Schuhmacher, 1930 Gründung eines eigenen Geschäfts, das er 1934  wieder aufgab. Dann Bediensteter der Reichspost.
Karcher „trat 1928 der Partei bei. Von 1933 bis 1937 war er Ortsgruppenleiter in Eimeldingen. Als gleichzeitiges Mitglied des NSKK (Nationalsozialistisches  Kraftfahrerkorps) brachte er es bis zum Obersturmführer.“

3. Heinrich Schmitt
Geboren 1901 in Heidelberg, als kaufmännischer Angestellter in Heidelberg und Mannheim tätig, „ bis er sich 1927 nach Müllheim verheiratete, wo seine Frau ein Haushalts- und Lebensmittelgeschäft innehatte... .  Über das NSKK., dem er im Jahre 1934 beitrat, kam er 1936 als Kraftfahrer zum Finanzamt Müllheim, später zur NSV. (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt)  in Müllheim. ... . In dem NSKK. brachte er es bis zum Rottenführer, in der Partei bekleidete er kein Amt.“

4. Gustav Adolf Rheinboldt
Geboren 1894 in Strassburg, von 1914 bis 1918 freiwillig im Heeresdienst, „Von 1921 bis 1927 war er bei der Bereitschaftspolizei in Müllheim als Abteilungsschreiber und später als Hauptwachtmeister. Dann trat er als Anwärter bei der Badischen Justizverwaltung ein.
Der Partei trat er 1933 bei. Seit 1938 oder 1939 versah er das Amt eines stellvertretenden Kreisamtsleiters. Von 1933 bis 1934 war er Angehöriger der SA; als Obertruppführer schied er krankheitshalber aus. Im Jahre 19434 trat er erneut bei. Seit 1935 oder 1936 war er ausserdem Blockleiter.

5. Eugen Dörflinger
geboren 1900 in Freiburg. „ Zur Zeit der Judenaktion(sic)war er Lehrer in Zunzingen (Kreis Müllheim); am 1.5.1933 trat er der Partei bei. Am 1.8.1938 wurde er Kriesschulungsleiter im Bezirk Müllheim.“

6. Artur Sieber
Geboren 1910 in Stockach, Besuch der Realschule in Müllheim, Nach Abbruch des Jurastudiums arbeitslos, dann Schreibgehilfe und Kraftfahrer bei der Kreisleitung der Partei in Müllheim.
„Der Partei und der SA war er am 1.5.1933 beigetrten. Im Jahr 1939 kam er als , Kreishauptstellenleiter nach Rastatt.“

7. Karl Mewes
Geboren 1897 in Ensisheim, nach Besuch der Handelsschule Bürolehrling in einer Rechtsanwaltskanzlei. „Von 1920 bis 1928 war er in Staufen als Buchhalter tätig und dann     4 Jahre hindurch Teilhaber bei der Firma Uhren- Apparatebau in Staufen. ... 1935 wurde er auf der Kreisleitung in Staufen als Kassenleiter hauptamtlich angestellt.“
„Mewes trat am 1.5.1933 der Partei bei. Von 1933 bis 1934 war er auch Mitglied er SA.“

Im Pozess bestreiten fast alle Angeklagten ihre Beteiligung an den Ausschreitungen oder versuchen sie zu verharmlosen:


Heinrich Hehl versteigt sich gar zu der zynischen Aussage: „Als er morgens an der Wohnung Zivi vorbeigekommen sei, habe er sogar den Eindruck gehabrt, als ob Frau Zivi ihm mit einem Glas Rotwein zutrinken wolle.“

Otto Karcher bestreitet „ bis auf das   Hinauswerfen eines Teetisches aus dem Hause Heim jede aktive Beteiligung; auch bei dem „Judenschreck“ will er nicht dabeigewesen sein.


Gustav Rheinboldt will die Zerstörungen nur angesehen haben.


Eugen Dörflinger „will sich nur möglicherweise untätig in einer jüdischen Wohnung aufgehalten haben.


Artur Sieber gibt zu, sich am „Judenschreck“ beteiligt zu haben.


Karl Mewes macht geltend, dass er „als Angestellter der Kreisleitung dem Befehl des Kreisleiters sich nicht habe widersetzen können."


Nur Heinrich Schmitt gibt seine Beteiligung zu. „Er will  1 ½ Stunden lang bei der Zerstörung von 8 Wohnungen mitgewirkt haben.

Im August 1948 werden die Angeklahgten zu folgenden Strafen verurteilt:


Heinrich Hehl zu einer Gefängnisstrafe von 2 ½ Jahren
Otto Karcher zu einer Gefängnisstrafe von 2 Jahren
Heinrich Schmitt zu einer Gefängnisstrafe von 1 ½  Jahren
Gustav Rheinboldt zu einer Gefängnisstrafe von 10 Monaten
Eugen Dörflinger zu einer Gefängsnisstrafe von 3 Monaten
Karl Mewes zu einer Gefängnisstrafe von 3 Monaten.
Artur Sieber zu einer Gefängnisstrafe von 3 Monaten

Diese Strafen wurden nur teilweise vollzogen. Die Angeklagten stellten Anträge auf Gnadenerweise. Und nicht nur sie. Auch der Evangelische Kirchengemeinederat von Müllheim setzte sich für Hehl ein  und bat um seine Begnadigung.

Otto Karcher wurden 179 Straftage erlassen
Heinrich Schmitt wurden 272 Straftage erlassen
Gustav Rheinboldt wurden 73 Tage Haft erlassen
Eugen Dörflinger wurde die Strafe erlassen
Karl Mewese wurde die Strafe erlassen
Artur Sieber wurden 70 Straftage erlassen.

Heinrich Hehl befand seit dem 2. Mai 1945 wegen Misshandlung von Kriegsgefangenen in französischer Haft und wurde im April 1948 zu einer 10 jährigen Gefängnisstrafe verurteilt.  Im Dezember 1954  wird er daraus durch Gnadenerweis entlassen. Im März 1955 wird Hehl die Strafe aus dem Urteil des Schwurgerichts Freiburg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Wege der Gnade erlassen.

"Durch die Ermittlungen  der Staatsanwaltschaft .... konnten die Vorfälle vom 10. November 1938 in Müllheim nur teilweise aufgeklärt werden. Ungeklärt blieb insbesondere, wer die Zerstörungen auf dem jüdischen Friedhof und in der Synagoge vorgenommen hat.  ....   Nach der Beweisaufnahme steht auch fest, dass die Angeklagten auch bei den Zerstörungen der jüdischen Wohnungen nur ein Teil der Täter waren. Weit mehr Personen haben sich an diesen Zertsörungen beteiligt, .... von einem grossen Teil der Täter fehlen aber nähere Angaben vollständig.“

Im wesentlichen waren es immer die gleichen Parteileute, die sich mit Stöcken, Beilen, Äxten usw. betätigten, sie veranlassten aber auch andere, darunter junge Burschen, mitzumachen. Der Grossteil der Bevölkerung beteiligte sich nicht, setzte sich aber andererseits auch nicht für ihre jüdischen Mitbürger ein."

Wir sind heute auch zusammenkommen um der Opfer dieser zu gedenken und weil wir nicht wollen, dass solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit sich wiederholen. Wir Nachgeborenen sind nicht verantwortlich für die Verbrechen unsererer Vorfahren. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.

(Alle Zitate aus den Akten des Staatsarchivs Freiburg; F176/1 - 940 ff)

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