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9. November: Erinnern - um zu handeln

9. November 1938: Organisierte Schlägertrupps der Nazis setzen jüdische Geschäfte, Gotteshäuser und andere Einrichtungen in Brand. Tausende jüdische Menschen werden misshandelt, verhaftet oder getötet. Spätestens nun konnte jeder in Deutschland sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord staatsoffiziell geworden waren. Diese Nacht war das offizielle Signal zum größten Völkermord in der Geschichte.

Am 9. November 2024 - dem 86. Jahrestag der Reichspogromnacht -  hatte der Friedensrat Markgräflerland wieder zu einem Schweigemarsch aufgerufen, um der jüdischen Menschen aus Müllheim und Badenweiler zu gedenken, die von den Nazis ermordet wurden. Am Platz der ehemaligen Synagoge waren schwarz-weiße Stoffbahnen - die an die Kleidung von KZ-Häftlingen erinnern - aufgezogen, auf denen die Lebensdaten der ermordeten jüdischen Menschen verzeichnet waren.

Zu Beginn der Veranstaltung wandte sich Uli Rodewald vom Friedensrat Markgräflerland mit einer Ansprache an die Teilnehmer der Gedenkveranstaltung, die wir hier dokumentieren

Erinnern - nicht um zu vergessen

Erinnern - um zu handeln: Für Menschlichkeit und Frieden!

Rede Uli Rodewald, Friedensrat Markgräflerland

anlässlich des Schweigemarsches zur Erinnerung an die ermordeten jüdischen Müllheimer am Jahrestag der "Reichspogromnacht"  9.11.2024 vor der Evang. Stadtkirche in Müllheim

"Jahrzehnte später: ► Müllheim will sich der eigenen NS-Vergangenheit stellen " unter dieser Überschrift berichet der SWR über das Vorhaben der Stadt, die Geschichte Müllheims in der Nazi Zeit aufzuarbeiten, nachdem sie jahrzehntelang die Augen vor ihrer Vergangenheit verschlossen hat. Dazu hat die Stadt hat ein externes Büro beauftragt.

Wir vom Friedensrat Markgräflerland begrüssen dieses Vorhaben und wünschen uns, dass viele Erwartungen, die an dieses Vorhaben geknüpft werden, sich erfüllen. Dazu werden wir unseren Beitrag leisten.

Erwartungen an dieses Vorhaben hat auch das Ehepaar Schuhbauer, das die Schicksale von Jüdinnen und Juden aus Müllheim recherchiert und dokumentiert hat. Es erhofft sich, so in ihrem Gespräch, das der SWR mit ihm wegen des Vorhabens der Stadt geführt hat, "dass herausgefunden wird, wer aus der Müllheimer Bevölkerung in der Partei mitgearbeitet hat. "Außerdem sollten die Namen der Täter genannt werden, finden sie. "Sonst kann man es sein lassen, dann braucht man die Aufarbeitung nicht", sagt Rolf Schuhbauer.  Das Ehepaar Schuhbauer kennt die Namen Beteiligter. "Wir konnten es in diesem Müllheim aber nicht wagen, die Namen öffentlich auszusprechen", sagt Rolf Schuhbauer.

Wir haben zu den schändlichen Aktionen gegen jüdische Mitbürger in Müllheim am 9. November recherchiert und auf den Seiten des Friedensrats die Täter, soweit sie ermittelt wurden, benannt. Unsere Recherche haben wir der Presse zur Verfügung gestellt. Die Ergebnisse unserer Nachforschungen sind nicht veröffentlicht worden.

Wir hoffen und dringen darauf, dass sich das ändert.                                                                                   

Wer von den Opfern spricht, darf zu den Tätern nicht schweigen

Und wir hoffen darauf und wollen das unsere dazu tun, dass die Aufarbeitung der Verbrechen der Nazis nicht zu ihrem Vergessen führt, indem mit dieser Untersuchung ein Schlusspunkt gesetzt wird und die Erinnerung etwas für "Spezialisten" wird, die sich der "Erinnerungskultur" widmen.

Erinnerung an die Nazi Herrschaft wird dann lebendig bleiben und wirksam sein, wenn sie dazu beiträgt, die Trägheit der Herzen und des Verstandes gegenüber den brennenden aktuellen Fragen von Menschlichkeit heute zu überwinden.

Es gibt kein Recht nicht zu wissen.

Es gibt kein Recht nicht zu wissen, was in der Nazi Zeit geschah.

Es gibt kein Recht nicht zu wissen, was heute in unserem Land geschieht

Gegenüber unseren Mitbürgerinnen, die wegen ihrer Herkunft, Aussehens, ihres Geschlechts oder ihrer Meinung drangsaliert und misshandelt werden.

Menschen dürfen nicht mit zweierlei Maß gemessen werden. Welches Unheil daraus entsteht, hat die Nazi-Zeit gezeigt.

Schwarz-weiße Stoffbahnen - die an die Kleidung von KZ-Häftlingen erinnern - waren an dem Gedenkstein für die ehemalige Synagoge aufgezogen. Auf ihnen waren die Lebensdaten der ermordeten jüdischen Menschen verzeichnet

Wir brauchen Erinnerung, um unsere Wahrnehmung, unser Mitgefühl, unsere Anteilnahme und unsere Solidarität zu stärken. Erinnerung an die Opfer der Nazis wird dann lebendig, wenn sie uns berührt, unser Herz und unseren Verstand und uns zum Handeln bringt für Menschlichkeit und Frieden. Hier und jetzt!

Doch bloßes Gedenken an die NS-Verbrechen wird nicht helfen, autoritären oder neofaschistischen Bewegungen Einhalt zu gebieten. Die humanistische Substanz der offiziellen Erinnerungskultur hat sich als erschreckend dünn erwiesen.

Was es dazu braucht ist ein einfühlsamer Umgang mit den Ereignissen der Vergangenheit, und nicht nur nur kalte herzlose Benennung der Fakten.

Erinnerung ist kein Geschäft.

Zwei Beispiele dazu:

Auf dem Stolperstein für Ida Meier ist zu lesen: Freitod November 1938. Das stimmt und stimmt nicht. Denn Ida Meier wurde in von den Nazis in den Tod getrieben.

In der ► digitalen Führung zu den Stolpersteinen in Müllheim ist beschrieben, was es mit dem Schicksal von Ida Meier auf sich hat:

"Rosa „Renle“ Wolf, geborene Meier, und Ida Meier waren Schwestern. Die beiden Schwestern lebten in der Badstraße 6.

Während des Pogroms im November 1938 wurde die Wohnung der Schwestern überfallen, zerstört, Möbel aus dem Fenster geworfen. Ida wurde derart traumatisiert, dass sie sich am selben Tag mit Benzin oder Petroleum übergoss und selbst anzündete. Sie erlag am 27. November 1938 ihren Brandverletzungen."

Ein zweites Beispiel:

Es tut sich etwas um ► das "Zivi-Haus" in Müllheim . Und das ist gut so. Jetzt ist es auch deutlich zu sehen. Auf einer am Haus angebrachten Plakattafel ist zu lesen, dass sich "das Gebäude seit 2023 im Besitz der Stadt Müllheim befindet und zu einer Gedenkstätte für die jüdische Geschichte Müllheims entwickelt werden (soll)".

Bis 1935 wurde das Haus von der jüdischen Familie Zivi bewohnt, bis die letzte Bewohnerin, Talmina Zivi, 1935 das Haus für 4000 Reichsmark verkaufte.

Es habe sich zwar nicht um einen "Arisierungsverkauf" gehandelt, so Rolf Schuhbauer.  Doch ein Unbehagen habe der alleinstehenden Frau in der Nazizeit sicher zu schaffen gemacht.

Von diesem "Unbehagen" ist allerdings auf dem angebrachten Plakat am Zivi-Haus nichts mehr zu lesen. Auf dem ist nur nüchtern das Verkaufsjahr vermerkt, als handele es sich um einen ganz " normalen" Verkauf.

Kein Hinweis auf die Lebenswirklichkeit jüdischer Menschen im zweiten Jahr der Nazi-Herrschaft und danach. Während jener Zeit wurden diese Menschen von den Nazis schikaniert und gequält, wenn sie nicht rechtzeitig ins Ausland fliehen konnten.

Das "Zivi-Haus In Müllheim

 

Dazu nur einige Fakten:

"Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!" - unter Parolen wie dieser begann am 1. April 1933 um 10 Uhr ein reichsweiter Boykott jüdischer Geschäfte                               

Mit dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 konnten "nichtarische" Beamte in den Ruhestand versetzt werden, im Mai 1933 wurde ein "Ariernachweis" auch von Arbeitern und Angestellten des öffentlichen Dienstes gefordert.

Und in den Deutschlandberichten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) vom September 1935,  also dem Jahr des Verkaufs des Zivi Hauses, wird so über die Situation jüdischer Menschen in Müllheim berichtet::

"Besondere Aktivitäten entfalten die Nazis in Müllheim. ... Die Nazis machen Propaganda für den Plan, den Juden keine Lebensmittel mehr abzugeben. Am letzten Montag war Viehmarkt. Alle Leute, die sich mit Juden unterhieleten, wurden durch die Nazis fotografiert; die Bilder wurden vergrössert und in öffentlichen Lokalen aufgehängt. .... Als besondere Sensation hatte man eine Puppe als Juden ausgestopft, auf die solange eingehauen wurde, bis sie zerplatzte." ( Manfred Bosch, Als die Freiheit unterging, S. 305)

Dies beschreibt in Umrissen die Lebensumstände jüdischer Menschen, unter denen auch der Verkauf des Zivi-Hauses stattfand, der so kein Verkauf war wie irgend ein anderer.

Der Friedensrat Markgräflerland hat daher eine Änderung des Plakattextes gefordert, in dem  die Lebenslage jüdischer Menschen in Müllheim unter der Nazi-Herrschaft klar benannt und das "Unbehagen" am Verkauf des Hauses unter der Nazi-Herrschaft thematisiert wird.
Dies sind die Unterschiede, die ein Gedenken stumpf oder lebendig machen. Die deutlich machen, wie das Vergangene bis ins Heute reicht, uns und unser Tun beeinflussen vermag, damit kein neues Unheil entsteht.

Neues Unheil sind auch die Nazi Schmierereien, die in Müllheim zu sehen sind.  Sie befinden sich an den Seitenwänden der Unterführung unter der Südtangente in Höhe der Sterchelestr.

Ein Hakenkreuz ist aufgesprüht, die nationalistische Forderung " Deutschland den Deutschen" ist zu lesen sowie die Aufforderung "Fck Antifa" und "Love AfD".  Die Aufforderung "Werdet Aktiv DJV" bezieht sich auf die neofaschistische Vereinigung "Deutsche Jugend voran".

Der Friedensrat M;arkgräflerland hat sich an die Stadtverwaltung Müllheim gewandt mit der dringlichen Bitte dafür Sorge zu tragen, dass diese Schmierereien umgehend entfernt werden. Zugleich ist gegen die Täter Strafanzeige gestellt worden.

► Nazi-Schmiererei in Müllheim

Heute gedenken wir der ermordeten jüdischen Menschen aus Müllheim/Badenweiler und wollen aus ihrem Schicksal die Kraft schöpfen, uns heutigen unmenschlichen Entwicklungen entgegenzustellen. Seid Menschen!

 Zum Abschluss der Veranstaltung zitierte Uli Rodewald den Auschwitz-Überlebenden Leon Weintraub. Leon Weintraub, 1926 in einem Armenviertel in Łódź geboren, erlebte ab September 1939 die Schrecken der deutschen Besatzung in Polen und seiner Heimatstadt, wo er mit seiner Familie im Ghetto Litzmannstadt leben musste. Nach dessen Auflösung 1944 wurden die Weintraubs nach Auschwitz deportiert. Leon Weintraubs Mutter und die meisten anderen Verwandten und ehemaligen Ghetto-Bewohner*innen wurden dort sofort ermordet. Wie durch ein Wunder entkam Weintraub und überlebte nach Verbringungen in die Lager Groß-Rosen, Flossenbürg und Offenburg die Shoah.

Gefragt, was er sich angesichts der bedrückenden Weltlage zu seinem 99. Geburtstag wünsche, antwortet ► Leon Weintraub:

"Ich bin Arzt, Frauenarzt und Geburtshelfer. Diese Wahl habe ich bewusst getroffen: um zum Leben zu verhelfen. Meine geistigen Vorfahren waren die Vordenker der Französischen Revolution, Enzyklopädisten wie Diderot oder Voltaire, die den Begriff der Menschenrechte geprägt haben. Die drei Worte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind keine leeren Worte für mich. Es schmerzt mich zutiefst als Arzt und als Humanist, wenn Menschen leiden.

Mein tiefer Wunsch ist, dass die Menschheit Vernunft annimmt. Wenn ich als Frauenarzt operiere, sehe ich doch, egal welche Farbe die Haut hat, das Gewebe darunter ist hundertprozentig gleich bei allen Menschen. Und wenn wir den Astronomen lauschen, die uns berichten, dass es Galaxien wie unsere millionenfach gibt: Da sind wir doch ein kleines Stäubchen im Weltall. In diesem Stäubchen die Einwohner in Tausende Gruppen zu trennen, die sich leider sehr oft feindlich gegenüberstehen, ist das nicht absurd? Ich wünsche mir, dass die Völker reicher werden, wenn sie an Waffen sparen und die Wahl treffen, in Frieden miteinander oder nebeneinander zu leben. Das wünsche ich mir und der ganzen Welt zum Eintritt in mein 100. Lebensjahr."

 

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