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Nachts ist man schutzlos

Nachts ist man schutzlos

Mein Freund S. ist heute morgen abgeschoben worden. In der Früh, um 2 Uhr. Zwei Stunden später wurde noch ein anderer Flüchtling aus Müllheim abgeschoben. Aktuell sitzt er im Flieger nach Turin.

Mein Freund S. schläft heute in Turin bei Freunden und Gefährten, die er aus Gambia und aus Italien kennt. Ich bin froh, dass er heute Nacht ein Dach über dem Kopf hat.

Ich habe meinen Freund S. im Dezember beim Kartenspielen kennengelernt, bei einem Weihnachtsbegrüßungsfest in einer Kirchengemeinde in unserer Kleinstadt Müllheim.

Mein Freund S. kam aus Italien, mit noch 60 anderen jungen Männern, mitten im Winter.

In unsere Stadt, in unsere Turnhalle.

Eine Winterjacke hatte mein Freund nicht. Auch keine guten Schuhe. Und wie man sich gegen die Kälte schützen kann, mit langen Unterhosen und Mütze, Handschuhe , Schal... das hat er hier von uns gelernt.

Mein Freund S. ist knapp ein Jahr älter als mein Sohn, und ein wenig jünger als meine Tochter, jetzt ist Juni, wir kennen uns seit gut einem halben Jahr.

Mein Freund S. ist hier mit einigen anderen jungen Menschen in eine Integrationsklasse gegangen, er hat unsere Sprache gelernt.

Gestern habe ich noch mit seinem Vertrauenslehrer über seine Möglichkeiten im nächsten Jahr gesprochen. Er hätte im kommenden Jahr seinen Hauptschulabschluss machen können und dann wäre es möglich gewesen, hier eine Lehre zu machen.

Mein Freund S. war oft bei einer Familie, die ihn und auch andere mit offenen Armen empfangen hat.Oft hatte er keine Zeit für mich, weil er mit ihnen seine Zeit verbringen wollte.

Mein Freund S. hat mir von seiner Heimat erzählt, er hat mir von Libyen erzählt aber vor allem hat er mir eines Abends von Italien erzählt:

Im Flüchtlingslager in Bari waren zu der Zeit als ich dort war, 1500 Flüchtlinge. Es gab oft Kämpfe zwischen den Flüchtlingen. Diese endeten oft blutig. Ich habe drei solcher Kämpfe gesehen: einer im April 2014, einer im Mai 2014 und der dritte im Juni 2014. Es gab viel Gewalt und viel Blut. Die Polizei kam in diesen drei Fällen, die ich miterlebt und gesehen habe, erst am Ende des Kampfes.

Ich bin während des Kampfes immer in mein Zimmer geflohen und habe versucht,die Tür von innen zuzuhalten, es gab ja keinen Schlüssel. So haben es andere Flüchtlinge auch gemacht. Die Betroffenen waren sehr stark verletzt, sie wurden nicht oder nur notdürftig medizinisch versorgt...

Ich wurde im Juni 2014 aufgefordert, das Flüchtlingslager zu verlassen. Die italienischen Autoritäten sagten mir, dass ich jetzt gehen muss.Sie sagten mir nicht, wohin ich jetzt gehen soll und gaben mir nichts mit. Kein Geld, keine Lebensmittel, keine Ratschläge.

Ab diesem Moment habe ich im Bahnhof von Bari versucht zu überleben. Ich musste dort draußen schlafen und habe tagsüber gebettelt, um etwas zu essen zu haben. Ich hatte keine warme Kleidung und meistens Hunger. Viele Menschen leben im Bahnhof von Bari so wie ich damals.

Ich war immer hungrig und ich wusste nicht wo ich hin soll. Ich war nicht klar in meinem Kopf, weil ich nur ans Überleben von Tag zu Tag denken konnte. Es war eine ganz schlimme Zeit für mich dort...

Manchmal schlafe ich jetzt nicht gut und denke an die Dinge, die ich dort erlebt habe. Das macht mir jetzt große Sorgen. Ich entschied dann Ende Oktober 2014, dass ich einen besseren Platz für mich finden muss und bin nach Deutschland gekommen.“

Mein Freund S. hatte diesen besseren Platz gefunden. Und er hatte uns gefunden.

Mein Freund S. ist heute morgen abgeschoben worden. In der Früh, um 2 Uhr. Zwei Stunden später wurde noch ein anderer Flüchtling aus Müllheim abgeschoben. Aktuell sitzt er im Flieger nach Turin.

Ich mache mir Sorgen um meinen Freund, ich weiß, dass er oft nachts nicht schlafen kann, weil er sich erinnert. Ich weiß, dass er wegen seiner Ängste in Behandlung war und nun Medikamente nimmt.

Ich weiß, dass er hier Freunde hat. Ich vermute, dass der Platz in seiner Schulklasse jetzt frei ist. Und ich weiß, dass er mir fehlt.

Müllheim, den 17.Juni 2015

Birgit Budde

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