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Türkei:Friedensappell als Straftat |
Veröffentlicht von Friedensrat (admin) am Jan 16 2016 |
junge welt 16.Januar 2016
Aus: Ausgabe vom 16.01.2016 , Seite 1 / Titel
Ermittlungen wegen »Vaterlandsverrats« gegen über 100 weitere Akademiker
Von Nick Brauns
![]() Konfliktbewältigung à la Erdogan: Kritik am Krieg gegen die eigene Bevölkerung gilt als »Terrorpropaganda«
Foto: Depo Photos/ABACAPRESS.COM
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Zahlreiche Wissenschaftler sehen sich in der Türkei seit Freitag mit Ermittlungsverfahren wegen »Terrorpropaganda« konfrontiert. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte am Mittwoch die Bestrafung der Unterzeichner eines Friedensappells gefordert. 1.128 Mitarbeiter von rund 90 Universitäten aus der ganzen Türkei sowie einige bekannte ausländische Persönlichkeiten wie der Linguist Noam Chomsky und die Sozialwissenschaftler Immanuel Wallerstein und David Harvey hatten einen Appell mit dem Titel »Wir wollen dieses Verbrechen nicht unterstützen« unterzeichnet. Darin wird ein Ende der laufenden Militäroperationen im Osten der Türkei und eine Rückkehr zu Friedensverhandlungen mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gefordert. Die »Akademiker für Frieden« beschuldigen die AKP-Regierung einer »Vernichtungs- und Vertreibungspolitik«. Städte wie Cizre und Nusaybin sowie die Altstadt von Diyarbakir, Sur, würden mit schweren Waffen angegriffen und die Einwohner durch wochenlange Ausgangssperren »zum Verhungern und Verdursten« verurteilt.
Am Freitag nahm die Polizei in der nordwesttürkischen Provinz Kocaeli 14 Unterzeichner des Aufrufs bei Hausdurchsuchungen fest. Gegen 21 Dozenten der Universität Kocaeli wird nach Angaben der örtlichen Staatsanwaltschaft wegen »Terrorpropaganda« und »Volksverhetzung« ermittelt. Zudem sollen die Akademiker gegen den berüchtigten Artikel 301 des Strafgesetzbuches, »Beleidigung der türkischen Nation, des Staates der Republik Türkei und der Institutionen und Organe des Staates«, verstoßen haben.
In mindestens sechs weiteren Provinzen kommt es türkischen Medienberichten zufolge zu Ermittlungsverfahren. So beschlagnahmte die Polizei in der nordtürkischen Provinz Bolu Computer von Unterzeichnern des Appells. Allein in Istanbul ermitteln Staatsanwaltschaften nach Informationen der Tageszeitung Hürriyet Daily News gegen etwa 130 Mitarbeiter verschiedener Hochschulen. Mehrere Universitäten haben zudem Disziplinarmaßnahmen, die bis hin zu Kündigungen reichen, eingeleitet.
Die Unterzeichner des Friedensappells seien das »Gewissen des Landes«, erklärte dagegen der Vorsitzende der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas. Das Vorgehen der Justiz, die Erdogans Erklärung als Befehl betrachte, schädige erneut das Ansehen der türkischen Demokratie, hieß es von der kemalistisch-sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei (CHP). Regierungskritik dürfe nicht mit Verrat gleichgesetzt werden, sagte auch der US-Botschafter in Ankara, John Bass. Die Zahl der Unterzeichner des Friedensappells stieg bis Freitag auf über 2.000 an.
Zuletzt geändert am: Jan 16 2016 um 10:12 AM
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