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Vor 75 Jahren entstand in Frankreich das KZ Natzweiler-Struthof

Veröffentlicht von Friedensrat (admin) am Dec 12 2015
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Aus: Ausgabe vom 12.12.2015 , Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage

Verborgenes Grauen

Ein Ort des europäischen Gedenkens:

Von Florence Hervé
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Die Erinnerung an die Opfer wachhalten: Dieser Aufgabe sieht sich das Europäische Zentrum des deportierten Widerstandskämpfers (CERD) verpflichtet

Florence Hervé ist mit Martin Graf (Fotogra­fien) Herausgeberin des zweisprachigen, gerade erschienenen Buchs: Natzweiler-Struthof. Ein deutsches Konzentra­tionslager in Frankreich/Un camp de concentra­tion allemand en France. Papyrossa-Verlag, Köln 2015, 19,90 Euro. Auch im jW-Shop erhältlich.

Berliner Buchpremiere mit der Autorin: Mittwoch, 24.2.2016, 19 Uhr, jW-Ladengalerie, Torstraße 6, 10119 Berlin. Moderation: Stefan Huth

Mit Martin Graf ebenfalls Herausgeberin von Oradour: Geschichte eines Massakers/Histoire d’un massacre, Papyrossa-Verlag, Köln 2014.

Mit Hermann Unterhinninghofen Herausgeberin von Adélaïde Hautval: Medizin gegen die Menschlichkeit. Die Weigerung einer nach Auschwitz deportierten Ärztin, an medizinischen Experimenten teilzunehmen, Dietz-Verlag, Berlin 2008

Eine idyllische Landschaft. Herbstgelbe Rebhänge, dunkle Berge, Tannen- und Laubwälder, lichte Hügel, Burgen und Klöster wechseln sich mit Äckern und Weide ab, zwischendurch mit Blick auf die Rheinebene. Dort oben auf dem Berg thront die heilige Odile, Schutzpatronin des Elsasses, die Goethe zu seiner dem Leben entsagenden Ottilie inspirierte. Heute ein Wallfahrtsort. Ein Dutzend Kilometer vom Odilienberg entfernt, östlich von Strasbourg und in der Nähe des Dorfes Natzwiller, wurde früher Ski gelaufen. Der »Struthof« auf 800 Metern Höhe samt Bauernhof und Gaststätte war beliebt bei den Touristen. In dieser malerischen Vogesenlandschaft wurde vor bald 75 Jahren das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof errichtet. Von 1941–1945 war es eine Stätte des Schreckens, der Zwangsarbeit und grausamer Morde.

Bei klarem Wetter konnten die Inhaftierten auf die Berge schauen oder ins Tal und damit in die Freiheit: Häuser der Stadt Schirmeck mit den großen Sanatorien am Hang, in denen sich während des Krieges Lazarette befanden. Nur wenige Kilometer Luftlinie voneinander entfernt. Hier Pflege zum Zweck der Gesundung von Menschen, da geplanter Massenmord. Natzweiler-Struthof war das einzige deutsche Konzentrationslager im annektierten Elsass und in ganz Frankreich. Heute ist es weitgehend unbekannt. Welcher das Elsass liebende Tourist aus Deutschland ist schon auf dem Struthof gewesen? »Seid ihr schon einmal auf dem Struthof gewesen?« fragt die elsässische Dichterin und Musikerin Sylvie Reff: »Heilige Odilie, die das Elsass schützt, und du, liebe Hildegard von Bingen, seid ihr schon einmal auf dem Struthof gewesen? Dort hat Frau Zeit Haar und Zähne verloren, seither schaut sie kein Mann mehr an.«

Der waldige Weg vom ehemaligen Konzentrationslager zum Mont Louise führt nach einem Kilometer zu dessen Ursprung: Dort findet sich der begehrte rosa Granit. Im Herbst 1940 wählten hohe SS-Führer den Steinbruch in der Nähe des »Struthofs« zum Abbau des Granits aus, für die Monumentalbauten des Nazireichs. Auch dessen Oberarchitekt Albert Speer soll an dieser Entscheidung beteiligt gewesen sein. Zu dem gigantischen SS-Imperium gehörten mehrere Wirtschaftsunternehmen. So auch die »Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH«. Im Mai 1941 trafen etwa 300 Häftlinge im Bahnhof Rothau ein.

Eingang Konzentrationslager
Das Tor zur Hölle: Am Eingang des ehemaligen Konzentrationslagers

Idylle und Horror

»Draußen das Geschrei der Soldaten, Schiebetüren, die geöffnet werden. Pfiffe. Das Bellen der Hunde. Und dann geht es weiter. Kreischende Schienen. Wir sagten, sie weinen. Wegen uns vielleicht«, erzählt Franck Balandier in »Das Schweigen der Schienen«, der Geschichte eines homosexuellen Deportierten im KZ Natzweiler-Struthof. Die Häftlinge begannen mit dem Bau der Wege, Straßen und des Barackenlagers. Die Idylle wurde zum Horror. Viele erlebten die »Eröffnung« des Lagers nach einem Jahr nicht mehr.

Dorthin, oben auf den nun verfluchten Berg, wurden Widerstandskämpfer und NN (sog. Nacht-und-Nebel-Gefangene) fast aller europäischen Nationalitäten verschleppt und zur Sicherung von Profiten für Rüstungsbau und SS-Wirtschaftsunternehmen ausgebeutet. Hier fand eine »industrielle Rationalisierung im Dienst des Terrors« statt, stellt Frédérique Neau-Dufour, die Leiterin des Europäischen Zentrums des deportierten Widerstandskämpfers, fest. Hier wurden die Deportierten erschlagen, erhängt, erschossen, zu Tode gequält. SS-Kommandant Kramer sah den Hinrichtungen am Galgen gern persönlich zu, rauchte dabei eine dicke Zigarre und machte Witze.

Natzweiler-Struthof war Knotenpunkt in einem ganzen »Netzwerk des Terrors«, so der Historiker und Autor des gleichnamigen Standardwerks, Robert Steegmann: Über das Stammlager hinaus unterhielt es 70 Nebenlager und Außenkommandos jenseits und diesseits des Rheins (vor allem in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz). Es war eines der mörderischsten Konzentrationslager. Unter den 52.000 Häftlingen forderte es 22.000 Tote, die Todesrate lag bei über 40 Prozent. Nicht nur bei extremen Witterungsverhältnissen, eisigen Winden und Schneegestöber führten Unterernährung, dürftige Bekleidung, Zwangsarbeit, furchtbare Misshandlungen und Strafen (vom Prügelbock bis zum Galgen) zur Vernichtung von Menschenleben.

Gaskammer
Mordstätte: In der Gaskammer des KZ wurden auch die Opfer von Menschenversuchen beseitigt

»Grausamkeit, Barbarei, Sadismus, nenn’ es, wie Du willst. Es ist schwer zu glauben, und doch ist es so. Wer bin ich? Ein Paket aus Knochen, ein menschlicher Abfall, eine einfache Nummer. Oder das alles zusammen, das heißt null plus null, also null.« So beschreibt der ehemalige Deportierte Eugène Marlot in seinem Buch »Sac d’os«, was das KZ aus einem Menschen machte. Und der slowenische Schriftsteller Boris Pahor, ebenfalls ein ehemaliger Deportierter: »Ich glaube, dass kaum jemand versteht, was das heißt, nur noch aus Hunger zu bestehen, nur noch aus dem Magen zu denken, nur noch Magen zu sein. Das ist die physische und moralische Zerstörung des Menschen.«

Fluchten waren aufgrund der doppelten Stacheldrahtumzäunung unter Hochspannung nicht möglich. Eine einzige war erfolgreich. Außerhalb des Lagerzauns führt der waldige Weg am einstigen Wohnhaus des Lagerkommandanten vorbei, einer stattlichen Villa mit Garten und Schwimmbad. Der Weg windet sich, es sind noch etwa 15 Minuten durch den Buchen- und Tannenwald bis zur ehemaligen Gaststätte. Ihr gegenüber wurde 1943 die Gaskammer eingerichtet, im früheren Tanzsaal. Sie diente nun den pseudomedizinischen Menschenversuchen des berüchtigten SS-Arztes August Hirt sowie des Biologen Otto Bickenbach und des Bakteriologen Niels Eugen Haagen. Hirt, der vom IG-Farben-Konzern früh finanziell gefördert wurde, ab Oktober 1941 Professor für Anatomie an der »Reichsuniversität Straßburg«, hatte das besondere Vertrauen des Reichsführers SS Heinrich Himmler, der zugleich Präsident der rassenideologischen »Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe« war. Für deren wahnwitzige Projekte und für wehrwissenschaftliche Untersuchungen zur »Verbesserung« der Kriegsführung konnten Hirt und seine Mitarbeiter Häftlinge wie Laborratten benutzen. Hirt wollte eine »jüdisch-bolschewistische Schädelsammlung« schaffen. Dafür wurden im August 1943 86 Häftlinge jüdischer Abstammung vergast. Danach wurden die Leichen in Alkoholwannen des Strasbourger Anatomischen Instituts gelegt. Die Überreste wurden nach der Befreiung entdeckt: 16 vollständige Leichen, Körperteile, abgetrennte Köpfe und Präparate. 2004 gelang es dem Wissenschaftler und Journalisten Hans-Joachim Lang, die Leichen zu identifizieren und den ihnen zugeordneten Nummern ihre Namen zurückzugeben. Im Juli 2015 wurden weitere Überreste jüdischer Opfer im Straßburger Rechtsmedizinischen Institut gefunden: Glasbehälter mit Hautfragmenten sowie zwei Reagenzgläser mit Magen- und Darminhalt.

Menschen als Material

Adélaïde Hautval, eine deportierte Ärztin aus dem Nachbarort Le Hohwald, die sich in Auschwitz weigerte, an medizinischen Experimenten teilzunehmen, berichtet in ihrem Tagebuch »Medizin gegen die Menschlichkeit«, wie ein Verfechter der Rassentheorien im Mai 1943 das »Material« im Lager auswählte, indem er nackte Frauen jeden Alters vor sich paradieren ließ. »Eines Tages ließ man diese Frauen wissen, sie hätten das außerordentliche Glück, ausgewählt zu werden, sie würden Auschwitz verlassen und in ein hervorragendes Lager irgendwo in Deutschland kommen. Sie glauben es, so froh darüber, diese Hölle und die ständige Aussicht auf die Gaskammer verlassen zu können. Voller Freude sagten sie uns adieu. Keine hatte den Mut, sie zu enttäuschen … Unsere Überzeugung war, dass sie bald in einem Museum des großen Reichs ausgestopft als Zeugen für eine Rasse dienen würden, die es nicht wert sei zu leben und die dank der klugen Maßnahmen des Nationalsozialismus vernichtet worden sei. Wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört.« Die Frauen wurden ins Stammlager Natzweiler-Struthof gebracht und vergast.

Wachturm mit Blick auf die Vogesen
Unerreichbar: Ein Wachturm mit Blick auf die Vogesen. Das Lager war doppelt mit Stacheldraht umzäunt

Vor den anrückenden Truppen der Alliierten wurden die übriggebliebenen Häftlinge im September 1944 ins Innere des Nazireiches »evakuiert«, in tagelangen Todesmärschen, bei denen Tausende Häftlinge durch Misshandlungen, Hunger, Krankheit und Erschöpfung zugrunde gingen. Das letzte Nebenlager wurde im April 1945 aufgelöst.

Und danach? Was geschah mit den Tätern? Nach dem Ende des Naziregimes fanden in Frankreich einige Prozesse in Sachen Natzweiler-Struthof statt. So in Metz in den 50er Jahren. Die Strafen wurden zum Teil in Frankreich vollstreckt. Die in Abwesenheit Verurteilten jedoch wurden wegen des Auslieferungsverbots im Grundgesetz nicht nach Frankreich überstellt. Erst ab 1974 waren die bundesdeutschen Gerichte für Verfahren gegen diese Täter zuständig – verurteilt wurden sie nicht.

Der Philosoph Emmanuel Lévinas schreibt von seinem Entsetzen, das ihn bei der Lektüre der Protokolle von Metz ergriff: »Der Struthof-Prozess hat mit acht Jahren Verspätung stattgefunden. Dennoch ist es richtig, dass unter dem fröhlichen oder geschäftigen Lärmen der Straße, im Murmeln der linden Nachtwinde oder im Liebesgeflüster die Menschen des Jahres 1954 von neuem die indiskreten Schreie gequälter Menschen vernommen haben. Ein kleiner Pole schreit: ›Mama!‹ Das Vergessen ist das Gesetz, das Glück und die Voraussetzung des Lebens. Aber hier hat das Leben unrecht.«

Galgen
Letzter Weg: SS-Kommandant Kramer sah den Hinrichtungen am Galgen gern persönlich zu

Täter gingen frei aus

In der Bundesrepublik wurde das Vergessen zum Gesetz. Es gab wenige Ermittlungsverfahren, diese zogen sich häufig über zehn Jahre hin. Manche wurden wegen Verjährung eingestellt, Hauptverfahren wegen »Verhandlungsunfähigkeit« nicht eröffnet. Fast alle Täter und Gehilfen, auch die wegen mehrfachen Mordes Verurteilten, waren Mitte der 50er Jahre, spätestens 1960 wieder auf freiem Fuß. So zum Beispiel die Täter im weißen Kittel Otto Bickenbach und Niels Eugen Haagen, die im Dezember 1952 vom Militärgericht in Metz zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt worden waren. Haagen, der die Typhusversuche im KZ Natzweiler und im Sicherungslager Schirmeck geleitet hatte, arbeitete danach bei der Bundesforschungsanstalt für Viruskrankheiten der Tiere in Tübingen und wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.

Die Justiz brachte keine Gerechtigkeit. Es bleibt, im Gedenken nicht nachzulassen. »Vollendet wird die Vernichtung der Opfer erst durch das Vergessen. Lebendig macht das Entdecken zwar niemanden, aber es hält die Ermordeten in lebendiger Erinnerung«, schreibt der Autor des Buchs »Die Namen der Nummern« über die in Natzweiler-Struthof Vergasten und zu Tode Gequälten, Hans Joachim Lang.

Mit der Erinnerung tat man sich von offizieller Seite auch in Frankreich schwer. Erst 1960 wurde auf dem Struthof vom Präsidenten der Republik, General Charles de Gaulle, eine Gedenkstätte eingeweiht, im November 2005 folgte schließlich die Eröffnung des Europäischen Zentrums des deportierten Widerstandskämpfers (CERD). Frédérique Neau-Dufour, Politikwissenschaftlerin und Historikerin, die Biographien u. a. über die Widerstandskämpferin und Ravensbrück-Deportierte Geneviève de Gaulle-Anthonioz geschrieben hat, erklärt es auch damit, dass das KZ-Natzweiler leer war, als die alliierten Soldaten hier eintrafen. Somit gab es zunächst keine Hinweise auf das schreckliche Geschehene. Bei der Befreiung gab es keinen Schock wie angesichts der Leichen in Bergen-Belsen oder Auschwitz. Am Anfang stand hier nur eine Vermutung, bis man schließlich den Kremationsofen, die Gaskammer und die Folterinstrumente entdeckte. Außerdem, so Neau-Dufour, war es »ein kleines Lager«, und es sei schwierig gewesen, im Elsass das Gedenken zu organisieren. Das Elsass war von 1940–45 Deutschland angegliedert. Die Elsässer fürchteten, das Lager dort bestätige das Bild von ihnen als angebliche Nazis, während es für Frankreich insgesamt seine Selbstdarstellung gefährdete, wonach eigentlich alle Franzosen den Widerstandsgruppen der Résistance angehört hatten.

Zeichen gegen das Vergessen setzen heute Gedenkstätten jenseits und diesseits des Rheins sowie Organisationen von ehemaligen Widerstandskämpfern und Deportierten wie die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer FIR. 180.000 Menschen aus ganz Europa besuchen jährlich das ehemalige Konzentrationslager und das vor zehn Jahren am »Struthof« gegründete CERD, darunter etwa 20.000 Schüler und Schülerinnen. »Alle Schulklassen aus dem Elsass waren hier«, sagt Frédérique Neau-Dufour, die 2015 den Preis des Presseklubs Strasbourg-Europe für ihre Arbeit erhielt. Ein Besuch hier sei nicht leicht, denn »die Wirklichkeit ist schwer zu ertragen«.

Es ist still auf dem Struthof an diesem feuchten, nebelverhangenen Novembertag. Es wird einem noch kälter beim Besuch des ehemaligen KZ. Doch zu einer Zeit, in der Revisionisten und Leugner des Holocausts weiterhin aktiv sind, sei es gerade wichtig, so die CERD-Leiterin, diesen Ort des Gedenkens und des Mahnens zu besuchen. Er soll an die vielen unbekannten Häftlinge erinnern, die »im Schatten« der Geschichte stehen, und zugleich das Gedenken gegen den »Identitätswahnsinn« pflegen. Er ist ein europäischer Gedenkort: »Vergessen wir nicht, dass Europa auch in den Lagern geboren wurde. Die ersten Bemühungen um ein friedlich vereintes Europa gehen auf die Deportierten zurück.« So wird die Erinnerung an die europäische Widerstandsbewegung, verbunden mit der Perspektive eines antifaschistischen Europas, auch zu einem Erinnern für die Gegenwart und für die Zukunft.

Zuletzt geändert am: Dec 12 2015 um 10:03 AM

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