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In der Hölle von Rivesaltes

Veröffentlicht von Friedensrat (admin) am Oct 18 2015
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Ehemaliges Internierungslager: In der Hölle von Rivesaltes

>  Frankurter Allgemeine 18. Oktober 2015

In den Baracken nahe der Pyrenäen wurden all jene zwangsinterniert, die zwischen die Mühlsteine der Kriege des 20. Jahrhunderts gerieten. An diesem Freitag eröffnet Frankreichs Premierminister die Gedenkstätte.

© FREDERIC HEDELIN/ ONLYFRANCE.FR Ein Raum für Erinnerungen: In der neuen Gedenkstätte von Rivesaltes

Ein kalter Nordwind peitscht über die karge Ebene. Der Taxifahrer hat sich verfahren, er flucht, „diesen Ort“ möge er nicht. Plötzlich sind die ersten verfallenen Baracken des Lagers von Rivesaltes zu erkennen, Mauerreste, so weit der Blick reicht. Fast sechs Jahrzehnte lang erstreckte sich hier über 600 Hektar Ödnis ein Internierungslager für Flüchtlinge und andere „unerwünschte“ Ausländer, wie die Lagerinsassen im französischen Beamtenjargon hießen. Wie kein anderer zeugt der Ort von der schwierigen europäischen Geschichte im Umgang mit Vertreibung und Flucht. In den Baracken von Rivesaltes wurden jene zwangsinterniert, die zwischen die Mühlsteine der Kriege des 20. Jahrhunderts gerieten: spanische Republikaner, die vor General Franco flohen, Sinti und Roma, Juden, die vor dem Hitler-Regime Schutz suchten, später deutsche und österreichische Kriegsgefangene und zuletzt algerische Hilfssoldaten („harkis“), die für ihre Treue zu Frankreich mit Vertreibung gestraft wurden. Der letzte Trakt des Lagers, in dem illegale Einwanderer auf ihre Abschiebung warteten, wurde 2007 geschlossen.

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Das erzählt Agnès Sajaloli, die Direktorin der neuen Gedenkstätte in Rivesaltes, die an diesem Freitag von Premierminister Manuel Valls eingeweiht wird. Das längliche, flache Gebäude der Gedenkstätte des Architekten Rudy Ricciotti duckt sich in die rötliche Erde. „Es ist wie eine Rampe gebaut worden, die unter der Erde beginnt und sich langsam erhebt“, sagt Sajaloli. „Der Bau ist niemals höher als die Barackendächer. Er überstrahlt nicht die Ruinen und erdrückt nicht die Erinnerung“, sagt die Direktorin.

Die Flucht vor Franco führte ins Lager in Frankreich

Dennoch fällt das Erinnern in Rivesaltes schwer. Bürgermeister André Bascou möchte lieber, dass die Ortschaft allein für ihren süßlichen Muskatwein berühmt bleibt. Aber auch die Regierung in Paris war zunächst zögerlich. Die Flüchtlingsschicksale, die jetzt im großen Ausstellungssaal dokumentiert werden, markieren wunde Punkte in der französischen Geschichtsbewältigung. Sie kratzen am Selbstverständnis eines Landes, das sich als Wiege der Menschenrechte sieht. Tatsächlich nimmt das Asylrecht seinen Ursprung in der Französischen Revolution.

Als annähernd eine halbe Million Spanier vor General Franco über die Pyrenäen flohen, öffnete die Regierung in Paris den Flüchtlingen jedoch nicht die Arme. Sie ließ sie in Lager einpferchen. Das größte entstand in Rivesaltes, auf dem Gelände eines 1938 errichteten Militärlagers. „Camp Joffre“ hieß es ursprünglich, nach dem General und Helden des Ersten Weltkrieges benannt, der in Rivesaltes geboren wurde. „Wir hatten immerzu Hunger. Wir kämpften gegen Stechfliegen und Kakerlaken. Das Schlimmste war der eisige Wind, la tramontane. Wir hatten Angst zu fliegen“, erinnert sich Antonio de la Fuente, Sohn republikanischer Spanier. Er war neun Jahre alt, als er in Rivesaltes interniert wurde. Seine und andere Erinnerungen können jetzt alle Besucher sehen und hören, als kurze, individuelle Filmbeiträge in der Gedenkstätte.

Rivesaltes bedeutete für manche Juden die Rettung

In der „Hölle von Rivesaltes“ gab es aber auch Momente großer Humanität. Die Krankenschwester Friedel Reiter, die für eine Schweizer Kinderhilfsorganisation im Lager lebte, half dabei, jüdische Kinder vor dem sicheren Tod zu retten. „Rivesaltes war zum wichtigsten Sammelpunkt für die Deportation in der Südzone geworden“, sagt Denis Peschanski, der wissenschaftliche Leiter der Gedenkstätte. Neun Züge gingen zwischen August und Oktober 1942 von Rivesaltes aus in die Vernichtungslager der Nazis. Für 2289 Juden wurde Rivesaltes die letzte Etappe vor dem Tod. Sie hatten vergeblich gehofft, dass sie im „freien“ Frankreich in Sicherheit seien. Der Anteil der Kinder, die gerettet werden konnten, sei jedoch höher als anderswo gewesen, sagt Historiker Peschanski und zeigt auf ein Foto der Krankenschwester.

Am 19. August 1942 notierte Friedel Reiter in ihrem Tagebuch: „Fürchterliche Hitze im Lager. Der Stacheldraht, der eng um Block K und F verläuft, ruft Beklemmung hervor. Die Klagen der gequälten Menschen liegen noch in der Luft. Ich sehe sie in langen Reihen aus ihren Baracken kommen und unter dem Gewicht ihrer Habseligkeiten nach Luft ringen. Die Wächter an ihrer Seite. Sich in einer Linie für den Appell stellen. Stundenlang in der gleißenden Sonne in einem Feld stehen. Dann kommen die Lastwagen, die sie zu den Bahngleisen bringen.“ Historiker Peschanski weist darauf hin, dass es nicht immer leicht war, den Kontakt mit den Überlebenden aufzunehmen. „Viele Leute wollen ihren Lageraufenthalt am liebsten vergessen und nie wieder darüber reden“, sagt er. Bei Paul Niedermann ist das nicht Fall. Er stammt aus Karlsruhe und zählte zu den 7000 Juden, die im Oktober 1940 aus Baden und der Saarpfalz nach Südfrankreich deportiert wurden. In Rivesaltes wurde er gerettet. Mutige Mitarbeiterinnen der Hilfsorganisation „L’oeuvre de secours aux enfants“ schleusten ihn zusammen mit seinem Bruder aus dem Lager und versteckten ihn. „Unsere Mutter und unseren Vater haben wir nie wieder gesehen“, sagt Niedermann.

Auch deutsche Kriegsgefangene wurden hier interniert

Es gab Pläne, die Ruinen des Lagers einfach abzureißen. Der dürre, wüstenartige Landstrich zwischen Pyrenäen und Mittelmeer eignet sich zwar nicht gut zur Landwirtschaft. Aber ein Windpark, der in der Nähe errichtet worden war, hätte erweitert werden können. Dass es schließlich doch zum Bau der Gedenkstätte kam, ist auf den inzwischen verstorbenen Präsidenten des Regionalrats Christian Bourquin, auf den Nazi-Jäger Serge Klarsfeld, aber auch auf viele weniger bekannte Leute zurückzuführen. Die Deutsche Madeleine Claus, die seit mehr als zwanzig Jahren in Perpignan französische Schüler unterrichtet, ist eine von ihnen. Bei einem Besuch in Berlin war sie eher zufällig auf das Lager Rivesaltes gestoßen. Seither hat sie in zahllosen Schülerprojekten die Lagergeschichte erforscht. „Als wir anfingen, war das Thema noch tabu“, sagt sie. An diesem Freitag eröffnet sie in Rivesaltes eine Ausstellung, die Schüler gestaltet haben.

In der Lagergeschichte gibt es noch immer weniger erforschte Kapitel. Im November 1942 wurde das Lager kurzzeitig wieder eine Kaserne. Deutsche Soldaten der 7. Panzerdivision wurden dort einquartiert. Nach der Befreiung internierten die neuen Behörden frühere Nazikollaborateure. Bis Mai 1948 wurden schließlich deutsche und österreichische Kriegsgefangene in die Baracken einquartiert. Viele starben an Hunger, Erschöpfung und an den schlechten hygienischen Bedingungen in den Baracken. In der Ausstellung wird ein Foto von dem Kriegsgefangenenfriedhof gezeigt, Hunderte von Holzkreuzen auf der rötlichen Erde. Was ist mit dem Friedhof geschehen? Historiker Peschanski weiß es nicht. „Vielleicht liegt er im militärischen Sperrgebiet. Vielleicht ist er verlegt worden“, sagt er.

Unheimliche Aktualität

Nach der Unabhängigkeit Algeriens 1962 ist Frankreich von neuem mit einer großen Flüchtlingswelle konfrontiert. Die „Harkis“, die muslimischen Hilfssoldaten, die der Kolonialmacht bis zuletzt die Treue gehalten haben, sind sich ihres Lebens nicht mehr sicher. Aber Frankreich hatte schon alle Not, die heimkehrenden Algerierfranzosen aufzunehmen. Mehr als 20.000 Harkis mit ihren Familien wurden deshalb in die Baracken von Rivesaltes verfrachtet. Die letzten Familien verließen 1977 das Lager. Im April 2012, mitten im Wahlkampf, reiste mit Nicolas Sarkozy zum ersten Mal ein französischer Präsident nach Rivesaltes und legte einen Kranz nieder. „Frankreich hätte die Harkis beschützen müssen. Es hat es nicht vermocht“, sagte Sarkozy.

Historiker Peschanski sagt, dass ihm die Aktualität der Gedenkstätte angesichts der Flüchtlingskrise fast unheimlich ist. Die Ausstellung in Rivesaltes endet mit einen Interview des Repräsentanten des UN-Flüchtlingswerks Philippe Leclerc. „Lager können nicht die Lösung für die Flüchtlingskrise sein“, sagt er.

Zuletzt geändert am: Oct 18 2015 um 3:57 PM

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