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Die Wut aufs Militär

Veröffentlicht von Friedensrat (admin) am Jul 29 2014
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Die Wut aufs Militär

Literatur. Heute vor vierzig Jahren starb Erich Kästner – sein Zorn muß uns bleiben

Von Otto Köhler

Gebrauchslyrik nannte der große Melancholiker Erich Kästner seine Gedichte. Für mich waren sie Anleitung zum Kampf. Ende August 1955 studierte ich im vierten Semester an der Universität Würzburg – da gab es viel Widerstand zu lernen. Zehn Jahre zuvor hatte ich noch mit meinen Kunststoffsoldaten (zu jedem Christfest schenkte Elternliebe davon ein Paket) gespielt und die Heftchen der »Kriegsbibliothek der Deutschen Jugend« gelesen. Jetzt war ich Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes an der von schlagenden und farbentragenden Jungakademikern beherrschten Universität und hängte in den SDS-Schaukasten vor der Mensa Kästners Gedicht »Die andre Möglichkeit«. Es hebt an mit dem Konditionalis »Wenn wir den Krieg gewonnen hätten« und endet mit der – zutreffenden? – Versicherung: »Zum Glück gewannen wir ihn nicht«.

26 Jahre zuvor, am 9. Juli 1929, war dieses Gedicht erstmals in Carl von Ossietzkys Weltbühne erschienen. 1930 nahm Kästner es in seine Gedichtsammlung »Ein Mann gibt Auskunft« auf. Im selben Jahr nannte Kurt Tucholsky (als Peter Panter) in der Weltbühne das Poem eine »prachtvolle politische Satire«, die ihm »die deutschen Nationalisten heute noch nicht verziehen haben«. Und ein halbes Jahrhundert später meinte Alfred Andersch »Die andre Möglichkeit« habe dem Militarismus mehr Schaden zugefügt als alle humanistisch-professoralen Essays zusammen.

Da hab ich »Ja!« gesagt

Kästner wurde mit 17 Jahren Soldat und hat sich als solcher so vorbildlich verhalten, wie man es nur jedem wünschen kann, der so etwas machen muß. Über seinen Ausbilder Sergeant Waurich hat er ein gleichnamiges Gedicht geschrieben, das heute noch eine vorzügliche Gebrauchsanweisung über den Umgang mit Vorgesetzten bei der Bundeswehr ist:

Er hat mich zum Spaß durch den Sand gehetzt

Und hinterher lauernd gefragt:

»Wenn du nun meinen Revolver hättst –

Brächst du mich um, gleich hier und gleich jetzt?«

Da hab ich »Ja!« gesagt.

Doch der Sergeant hat ihm höchstwahrschein-lich sein Leben gerettet. Kästner:

Wer ihn gekannt hat vergißt ihn nie.

Den legt man sich auf Eis!

Er war ein Tier. Und spie und schrie.

Und Sergeant Waurich hieß das Vieh,

damit es jeder weiß.

Der Mann hat mir das Herz versaut.

Das wird ihm nie verziehn.

Es sticht und schmerzt und hämmert laut.

Und wenn mir nachts vorm Schlafen graut,

dann denke ich an ihn.


Kästner wurde somit – was ihm schon sein Verstand vorgeschlagen hatte – auf Dauer kriegsverwendungsunfähig, Besseres kann man einem deutschen Menschen nicht wünschen.

Und darüber konnte Kästner froh sein. Denn, so erinnerte er sich an den Ersten Weltkrieg: »Das entscheidende Erlebnis war natürlich meine Beschäftigung als Kriegsteilnehmer. Wenn man 17jährig eingezogen wird, und die halbe Klasse ist schon tot, weil bekanntlich immer zwei Jahrgänge ungefähr in einer Klasse sich überlappen, ist man noch weniger Militarist als je vorher. Und eine dieser Animositäten, eine dieser Gekränktheiten eines jungen Menschen, eine der wichtigsten, war die Wut aufs Militär, auf die Rüstung, auf die Schwerindustrie.«

Kästner irrte, es war keine Animosität, keine Gekränktheit – ihn erfaßt ehrlicher und guter Haß auf das Militär, auf alles, was mit ihm zusammenhing. Und er verstand es, in dem einen Jahr bis zu der von Ebert gestohlenen Revolution sich mit viel Glück hinter den Linien zu halten. So überlebte er, weil er hellwach die Gefahr diagnostizierte, die ihm aus seiner Uniform erwuchs.

1959 tauchte »Die andre Möglichkeit« in der Neuauflage des Zürcher Atrium-Verlags von »Ein Mann gibt Auskunft« wieder auf. Kästner ließ sich damals unter dem Gedicht zu der Anmerkung hinreißen: »Nun haben wir schon wieder einen Krieg verloren …«

Er hatte keine Ahnung. Denn schon vier Jahre zuvor war klar, wer den damals letzten Krieg nicht verloren hatte. Im Mai 1955 beschloß der Bundestag, Hitlers Generale sollten eine neue Armee unter dem alten Eisernen Kreuz aufstellen – das Grundgesetz wurde zielführend zurechtgebogen. Nur das Etikett zeigte nicht mehr Wehrmacht, sondern Bundeswehr an. Schon im November 1955 waren die ersten »Freiwilligen« vereidigt. Dazwischen, Anfang September, fand ich unseren SDS-Schaukasten vor der Mensa leer: »Die andre Möglichkeit« war verschwunden, das Gedicht über jenen zum Glück verlorenen Krieg.

Der Direktor des Studentenwerkes, Dr. Franz Gerstner, Mitglied der farbentragenden, im Cartell-Verband organisierten katholischen deutschen Studentenverbindung Thuringia – »Vorwärts und Aufwärts!« heißt deren Leitspruch, und er stieg als CSU-Stadtrat 1970 auf zum Präsidenten des Bezirkstags von Unterfranken – er hatte mit seinem Zweitschlüssel den Kasten geöffnet und die Kästner-Lyrik entfernt. Und dazu hatte er jeden Grund. Einen Steinwurf – die Chance blieb ungenutzt – von der Würzburger Mensa entfernt, in den Huttensälen, rotteten sich Hitlers Fallschirmjäger zusammen, angeführt von ihrem General Herrmann-Bernhard Ramcke. Der brutale Freikorpskämpfer von 1919 wurde 1951 von den Franzosen wegen Plünderung, Geiselnahme und Mordes zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt, kam nach wenigen Wochen wegen der »Froindschaft« Adenauers und de Gaulles frei. Er tingelte seither als »Held von Brest« durch die Soldaten- und SS-Treffen der westdeutschen Republik und war Kontaktmann des Goebbels-Stellvertreters Werner Naumann, der 1952 mit seinem »Gauleiterkreis« einen Naziputsch plante und von der britischen Besatzungsmacht festgesetzt wurde.

Es war Ehrensache für meinen Studentenwerksdirektor Franz Gerstner, »Die andre Möglichkeit« Erich Kästners aus dem SDS-Schaukasten zu konfiszieren – er hatte, das erfuhr ich erst nach Jahrzehnten, als 19jähriger Fallschirmjäger in der Normandie mitgekämpft. Mir sagte er damals, es habe Drohungen gegeben, die Scheibe wegen Kästners Gedicht einzuschlagen. Und außerdem sei das Studentenwerk auf die Einnahmen angewiesen – die Fallschirmjäger aßen in der Mensa. Und sie hatten zu ihrem Glück den Krieg nicht verloren, das hätten sie sonst doch sicherlich irgendwann mal erfahren.

Da ging ich hin in die Huttensäle und sah und hörte mir die angesagte Wirklichkeit an – von Kästner nicht, sondern von Ramcke. Auf ihren Schultern trugen die jubelnden Fallschirmjäger den Ramcke nach vorn. Und den Kesselring. Generalfeldmarschall Albert Kesselring war der letzte deutsche Oberkommandierende in Italien. Er war in Venedig 1947 – erfolglos – wegen seiner Geiselerschießungen in den Fosse Ardeatine und anderer einschlägiger Verbrechen zum Tode verurteilt worden. Im Juli 1952 freigelassen, wurde er im August Präsident des alten Hitler-Koalitionspartners »Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten«, der im Jahr zuvor wiedergegründet worden war. Tosende Sprechchöre forderten Ramcke und Kesselring ans Rednerpult. Man ließ den toten Mussolini hochleben. Es war wie in jener Nervenheilanstalt, die Kästner in seinem aus dem SDS-Schaukasten konfiszierten Gedicht beschrieben hatte:

Wenn wir den Krieg gewonnen hätten,

mit Wogenprall und Sturmgebraus,

dann wäre Deutschland nicht zu retten

und gliche einem Irrenhaus.

»Die Reihen fest geschlossen«

Am Ende stimmte die Musikkapelle das dazugehörige Deutschlandlied an. Sie sangen natürlich: Über alles in der Welt. Und ich? Was tun? Wenn ich dabei sitzen bleibe, schlagen sie mich zusammen, dachte ich und versuchte, mich schnell davonzumachen. Vier Fäuste packten mich, hielten mich fest, ich mußte mir unter Drohungen das schreckliche Lied anhören, das heute Joachim Gauck so gern hört. Aus einer Ecke ertönte auch das mir als Zusatzstrophe geläufige Horst-Wessel-Lied. Doch bevor »SA marschiert mit ruhig festem Schritt« erreicht war, fiel die Kapelle eilends mit dem Fallschirmjägerlied ein.

Klein unser Häuflein, wild unser Blut,

Wir fürchten den Feind nicht und auch nicht den Tod,

Kauf am Kiosk!

Wir wissen nur eines, wenn Deutschland in Not,

Zu kämpfen, zu siegen, zu sterben den Tod.

Die zwei, die mich eisern festhielten, waren sehr lebendig – ich konnte mir die Ohren nicht zuhalten. Erst nach dem Gesang kam ich – unter Beschimpfungen – frei. So wurde ich Journalist. Und zweifelte an Kästners letzten Zeilen. Ich Ahnungsloser suchte damals Trost in Kästners letzter Zeile: Wenn wir den Krieg gewonnen hätten – Zum Glück gewannen wir ihn nicht. Er war viel mutiger als ich. Ich wollte flüchten. Er blieb sitzen. Damals, als die Nazis an der Macht waren. Kästner: »Als ich in jener Zeit, anläßlich der Amateurboxmeisterschaften, im Berliner Sportpalast saß und als zu meiner Überraschung bei jeder Siegerehrung die Besucher aufstanden, den Arm hoben und die beiden Lieder« – Deutschland- und Horst-Wessel-Lied – »sangen, blieb ich als einziger sitzen und schwieg: Hunderte schauten mich drohend und lauernd an.«

Wo ich innerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung flüchten wollte – blieb er im Nazistaat sitzen. Kästner: »Nach jedem Boxkampf wurde das Interesse an mir größer. Trotzdem lief dieses Nebengefecht des Abends zwischen dem Sportpalast und mir glimpflich ab. Was ich getan, genauer, was ich nicht getan hatte, war beileibe keine Heldentat gewesen. Ich hatte mich nur geekelt.«

Geekelt hatte ich mich auch – beim Würzburger Fallschirmjägertreffen. Doch die vier strammen Soldatenfäuste, die mich festhielten, damit ich stehend die Töne anhören mußte, denen in wesentlich gefährlicherer Situation Kästner sitzend widerstand, haben mich dank seiner aus dem SDS-Schaukasten entwendeten »Die andre Möglichkeit« zum Journalisten gemacht. Die Andere Zeitung, das von zwei aus der SPD ausgeschlossenen Vorwärts-Redakteuren herausgegebene Wochenblatt in Hamburg, druckte den unfreundlichen Bericht über diesen Aufmarsch der alten Hitler-Generale in Würzburg, den ich unaufgefordert schickte. So wurde ich nicht Studienrat für Althochdeutsch, sondern schrieb mich durch mein weiteres Leben.

»Für Zucht und Sitte«

Kästners mutiges Sitzenbleiben beim Deutschlandlied samt Hitlergruß blieb ohne Folgen, obwohl er schon ein verbotener Schriftsteller war. Er schilderte 1958 diese Episode in einer Rede, in der er die Tat eines anderen würdigt, der mit dem Leben bezahlte: »Als man den Schauspieler Hans Otto, meinen Klassenkameraden, in der Prinz-Albrecht-Straße schon halbtot geschlagen hatte, sagte er, bevor ihn die Mörder aus dem Fenster in den Hof warfen, blutüberströmten Gesichts: ›Das ist meine schönste Rolle.‹«

Das alles ist verzeichnet in Kästners großer Rede »Über das Verbrennen von Büchern«, die er 1958 auf der Hamburger PEN-Tagung hielt. Er war dabei, als neun Rufer in Berlin auf dem Opernplatz, wie in allen Universitätsstädten – auch in Würzburg auf dem Residenzplatz – die Namen der Autoren ausschrien, deren Bücher Nazistudenten ins Feuer warfen. Vom ersten Rufer: »Gegen Klassenkampf und Materialismus, für Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Marx und Kautsky.« Bis zum neunten Rufer: »Gegen Frechheit und Anmaßung, für Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist! Verschlinge, Flamme, auch die Schriften von Tucholsky und Ossietzky!« Kästner selbst war gleich nach Marx schon bei Rufer Numero zwo dran: »Gegen Dekadenz und moralischen Zerfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner.«

Da verbrannte auch Kästners Meisterwerk »Fabian. Tagebuch eines Moralisten« in der von der Deutschen Verlagsanstalt aus Angst vor den Nazis kräftig zensurierten ersten Auflage von 1932. Kästners Urfassung konnte unter dem von ihm gewünschten Titel »Der Gang vor die Hunde« erst 2013 erscheinen. 50000 Deutsche sollen allein in Berlin an der Bücherverbrennung, diesem »Fest des deutschen Geistes« teilgenommen haben. Als eine Frau in der Nähe halblaut bemerkte: »Da steht ja der Kästner!«, da macht er sich langsam und unauffällig davon. Die Studenten hätten den Autor zu seinen Büchern ins Feuer geworfen. Seinen Kollegen vom PEN sagte er 1958 am Schluß seiner Rede: »Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät«. Doch die Sozialdemokraten wählten lieber Hindenburg, der Hitler in die Steigbügel half.

Pluralis teutonicus

Der PEN. Kästner war 1949 zusammen mit Johannes R. Becher Präsident des PEN-Zentrums Deutschland. 1951, als sich die Westdeutschen abspalteten, wählten sie Kästner zu ihrem Präsidenten. Das war gut so, denn er hielt die Fanatiker im Zaum und trat immer wieder für Gespräche mit dem Ost-PEN ein. Aber wer auch immer PEN-Präsident in Deutschland wird – er läuft Gefahr, sich mit allerlei seltsamem Gedankengut zu kontaminieren. Das passierte – wir dürfen es nicht verschweigen – auch mit Erich Kästner.

In jener unverschämten Zeit, da »Deutschland« erstmals Weltmeister wurde, die Deutschen in Massen über die Tulpenfelder Hollands herfielen und dort wieder angesehene deutsche Wehrmachtssoldaten ihren Familienangehörigen stolz die – neu aufgebauten – Gebäude zeigten, die sie selbst 1945 noch erfolgreich gesprengt hatten, da schickte – der Schriftsteller kann es nicht gewesen sein – PEN-Präsident Erich Kästner am 6. Juli 1954 seinem Generalsekretär Kasimir Edschmid ein Schreiben. Es wird von PEN-Monograph Sven Hanuschek behutsam so eingeführt: »Sein Brief ist auch ein mentalitätsgeschichtlich eindrucksvolles Dokument, zeigt es doch, daß Kästner nur den Deutschen selbst Definitionsmacht zubilligte über das, was Nationalismus und Nationalsozialismus sind.«

Der PEN-Präsident also in dem – Kästner so ungewohnten, heute längst wieder selbstverständlichen – Pluralis teutonicus: »Da der nächste Kongreß in Wien sein wird, haben wir 1955 einen guten Boden. Bis dahin werden uns die Österreicher verziehen haben, daß unsere Fußballer die ihren 6:1 geschlagen haben. Umso eher, als wir ja auch im Endspiel die Ungarn schafften. Immerhin – Mercedes gewann den Grandprix; der ›Volkswagen‹ hat den europäischen Markt erobert; die deutschen Reise-Omnibusse sind überall zu sehen; Frankreich laviert sich in die Schmollecke – unsere Beliebtheit sinkt wieder einmal rapide. Das war ja auch der psychologische Hintergrund der PEN-Vorgänge, so traurig das ist. Solang wir klein und häßlich waren, klopfte man uns gönnerhaft auf die magere Schulter. Die neue notwendige Einstellung fand man nicht. Unsere Reaktion war deshalb unvermeidlich. Wollen wir hoffen, daß sie, in aller Stille, das Verhalten uns gegenüber auszubalancieren hilft! Wir wollen ja nicht mehr als ›Gleiche unter Gleichen‹ zu werden. Zum Glück scheint die Presse, im ganzen, die Affäre nicht aufgebauscht zu haben. Das wird den anderen den Stellungswechsel erleichtern.«

Und dann folgt die rhetorische Frage: »Wissen Sie, wie man für Wien als Kongreßstadt abgestimmt hat? Daß man uns dort« – der Jubel von 1938 – »in einer solideren Position treffen wird als in Tel Aviv« – bei den Juden – »oder in London, mußte den Zentren bei der Abstimmung klar sein.«

So artikulierte sich vorgestern vor sechzig Jahren – am 27. Juli 1954 – der westdeutsche PEN-Präsident Erich Kästner in einem Brief an den solcher Sprache sehr kundigen PEN-Generalsekretär Kasimir Edschmid. Schwamm drüber: Kein Mensch ist ohne Fehl, und ein Erich Kästner, der so vorbildlich das deutsche Militär gekränkt und beleidigt hat, durfte sich einen solchen Ausfall in deutsche Dummheit und Dreistigkeit ausnahmsweise leisten. Ein Jahrzehnt später habe ich ihn ein einziges Mal getroffen, in Frankfurt in einem Restaurant am Main. Die Satire-Zeitschrift Pardon, bei der ich als Redakteur angestellt war, gab Erich Kästner zu Ehren ein Abendessen. Er wirkte müde, resigniert, ich habe nicht viel davon behalten.

Er hat es gewußt. Lange bevor er 1974 starb, am 18. Januar 1933, machte Erich Kästner in seinem Poem »Alter Herr, anno 1970« für die Nachgeborenen – »Und nun kommt ihr. Ich kann euch nichts vererben« – sein Testament:

Wir hofften. Doch die Hoffnung war vermessen.

Und die Vernunft blieb wie ein Stern entfernt.

Die nach uns kamen, hatten schnell vergessen.

Die nach uns kamen, hatten nichts gelernt.

Sie hatten Krieg. Sie sahen, wie er war.

Sie litten Not und sah’n, wie sie entstand.

Die großen Lügen wurden offenbar.

Die großen Lügen werden nie erkannt.


Es folgt: das ARD-Extra zur Lage in der Ukraine.

Literatur



– Erich Kästner: Ein Mann gibt Auskunft, Atrium Verlag Zürich, 112 Seiten, 9,90 Euro

Die Veranstaltung »Bleib am Leben, sie zu ärgern« – ein Erich-Kästner-Abend mit Gina Pietsch und Uwe Streibel – am heutigen Dienstag in der jW-Ladengalerie ist leider ausverkauft.



Tucholsky-Preisträger Otto Köhler schrieb zuletzt am 26. Juni 2014 auf den Thema-Seiten über eine Rede Adolf Hitlers

Die andre Möglichkeit

Text: Erich Kästner



Wenn wir den Krieg gewonnen hätten,

mit Wogenprall und Sturmgebraus,

dann wäre Deutschland nicht zu retten

und gliche einem Irrenhaus.

Man würde uns nach Noten zähmen

wie einen wilden Völkerstamm.

Wir sprängen, wenn Sergeanten kämen,

vom Trottoir und stünden stramm.

Wenn wir den Krieg gewonnen hätten,

dann wären wir ein stolzer Staat.

Und preßten noch in unsern Betten

die Hände an die Hosennaht.

Die Frauen müßten Kinder werfen,

Ein Kind im Jahre. Oder Haft.

Der Staat braucht Kinder als Konserven.

Und Blut schmeckt ihm wie Himbeersaft.

Wenn wir den Krieg gewonnen hätten,

dann wär der Himmel national.

Die Pfarrer trügen Epauletten

Und Gott wär deutscher General.

Die Grenze wär ein Schützengraben.

Der Mond wär ein Gefreitenknopf.

Wir würden einen Kaiser haben

und einen Helm statt einem Kopf.

Wenn wir den Krieg gewonnen hätten,

dann wäre jedermann Soldat.

Ein Volk der Laffen und Lafetten!

Und ringsherum wär Stacheldraht!

Dann würde auf Befehl geboren.

Weil Menschen ziemlich billig sind.

Und weil man mit Kanonenrohren

allein die Kriege nicht gewinnt.

Dann läge die Vernunft in Ketten.

Und stünde stündlich vor Gericht.

Und Kriege gäb’s wie Operetten.

Wenn wir den Krieg gewonnen hätten –

Zum Glück gewannen wir ihn nicht!

Zuletzt geändert am: Jul 29 2014 um 4:19 AM

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